DER TOTALE MOSES
Wir saßen in seliger Ruhe am Feuer, das windumbraust knisterte, hoch hinauf in den dunklen Himmel glühte und Funken schlug im freien Spiel der Flammen. Wir lauschten und rückten nah zueinander, wir flüsterten und reichten uns die Hände, die Brote und das Wasser; wir erzählten von unseren Reisen, wo wir waren, wohin wir wollten und mit wem.
In einiger Entfernung grölten Leute, vergaßen sich in wütender Freude und lautem Taumel. Sie tanzten, sie tranken, sie feierten – was auch immer. Nichts neues, wie immer, wir ignorierten sie. Alles galt auf seine Weise.
Wenig Zeit war verstrichen und der Lärm betäubend geworden. Unsere Sätze wurden kürzer, wurden Fragmente, zerfaserten; Flüstern war nicht mehr möglich, kein leises Wort verständlich, alles schallte, was genau, weiß ich nicht mehr, aber das Gespräch verstummte völlig; die Gesichtszüge nur noch Ausdruck erzwungener Duldung viel zu naher Nächster: Alles brüllte und stritt, im Widerschein der Feuer tauchten Fratzen auf, und aufgerissene Augen, weiß und schwarz und Fetzen des Geschreis drangen bis zu uns: „… verloren… Wo ist er? …Führung … Was sollen wir tun?“ Und die Menge schien ein nackter Nerv zu sein, der unter unsichtbaren Schlägen zuckt und krampft, während weiter draußen, dies Geschrei am Lager stumm umkreisend, eine vage und uralte Drohung abzuwarten schien. Aber niemand sah etwas und niemand konnte etwas hören. Ein Mann versuchte Andre zu beruhigen, ging von Mann zu Mann und Frau zu Frau und sprach zu ihnen, sammelte etwas ein, rief sie auf, beschwor sie, tröstete sie und füllte scheinbar jene Lücke, die dieser ominöse Führer, der noch fehlte, hinterlassen hatte. Da wir abseits saßen, sahen wir nicht, was dort geschah und hofften nur, es würde ruhiger werden, damit wir wieder unsre Stimmen hören: während die Anderen sich versammelten und irgendwas umkreisten, setzten wir uns nah ans flüchtendschöne Feuer, betrachteten den Funkenwirbel und erzählten. Bis der Lärm erneut anhob.
Plötzlich war dieser sogenannte Moses von seiner Wanderung zurückgekehrt. Aufregung, Gebrüll, Gedränge. Wir sahen nur die Menge, die sich zu ihm wandte, all die Köpfe wie ein Haupt sich neigen vor der Wut des einen Mannes. Aber was war los, ich weiß es nicht. Auch der Andere, der ihn vertreten hatte, schien sich zu verteidigen, doch alles, was ich von ihm hörte war: „Das Volk ist böse“. Was ich genauso wenig begriff, wie Moses‘ Wut, die überhaupt nicht wich: Er war immer schon ein absolut entschlossner Führer, der Abweichung nicht duldete. Er hatte sich schon früher immer dann ereifert, wenn er wieder von seinem sogenannten Herren sprach. Aber meistens kehrte Ruhe ein, wenn jeder schwieg und folgte. Und viele legten alle Hoffnung in diesen unnahbaren Mann, viele sahen zu ihm auf und lauschten seinen Predigten und all diesen Versprechen. Jetzt jedoch war Moses außer sich, donnerte und drohte, schrie in Hysterie und Zorn und schmiss mit Befehlen und Vorhaltungen um sich, auf wen genau, weiß ich nicht, warum genau, weiß ich nicht, er pries die sogenannten Gesetze, welche genau, weiß ich nicht, ich erinnere mich gar nicht mehr an den genauen Wortlaut, nichts neues, ich weiß nur noch wie: Wie dieser Moses da mit seinen sogenannten Gesetzen über der Menge stand und wie seine Stimme durch die Menschen schnitt und wie seine Befehle auf die Köpfe hackten.
Es war Moses‘ Wie, das mich erschreckte, das Wie, das mich warnte, es war Moses‘ Wie, das ihn entlarvte: Er schien mir der totale Moses zu sein. Er erinnerte mich an die Geschichten vom Pharao, die Auslieferung, die Gewalt, die Ohnmacht und als ich ihn schreien hörte, „So spricht der HERR, der Gott Israels: Gürte ein jeglicher sein Schwert um seine Lenden und durchgehet hin und zurück von einem Tor zum andern das Lager, und erwürge ein jeglicher seinen Bruder, Freund und Nächsten“, da ließen meine Nächsten und ich sofort alles fallen und rannten um unser Leben, in welche Richtung, weiß ich nicht mehr, wie lang, weiß ich nicht mehr, ich weiß nur noch und werde es nie vergessen, wie Kinder, Frauen, Männer, Alte und Junge, die eben noch gelärmt, gelacht und getanzt hatten, unter Marterschreien in Stücke gehackt wurden, weil ein alter zorniger Führer, der immer mit seinem Herrn sprach, das befohlen und keiner der Mörder das angezweifelt oder abgelehnt hatte.