
José Ortega y Gasset
Drei Bilder vom Wein – Das Bacchanal des Tizian
Ich kann nicht glauben, daß es auf der Welt noch einmal ein Gemälde von solchem Optimismus gibt. Da ist ein ebenes Stück Boden, gleich neben einem kleinen Hügel. Diesen Platz verschönen ein paar Bäume: zwischen ihnen tiefblaues Meer, dichte, reglose Flut. Ein Schiff gleitet gemächlich vorüber, der Himmel mit seinem kräftigen Blau, eine weiße Wolke in seiner Mitte, ist die Hauptperson. Von ihm zeichnen sich die Bäume, der kleine Berg, die Arme und Köpfe einiger Gestalten ab, und was immer er anrührt, wird frei von den Peinlichkeiten des Materiellen.
Diesen friedlichen Winkel des Universums haben Männer und Frauen zur Daseinsfreude ausersehen. Man trinkt, lacht, plaudert, tanzt, tauscht Zärtlichkeiten und schlummert. Sämtliche biologischen Funktionen scheinen hier zur Würde zu gelangen, alle scheinen sie das gleiche Recht zu genießen. Nicht weit von der Mitte des Bildes hebt ein kleines Büblein sein Hemdchen hoch und macht sein Geschäftchen.
Oben auf dem Hügel nimmt ein nackter Alter sein Sonnenbad, und vorne rechts reckt sich Ariadne im Schlaf, hüllenlos und weiß. Man könnte diesem Gemälde einen ausdrucksvolleren Namen geben, einen, der dem entspräche, was es in Wahrheit ist: der Triumph des Augenblicks.
Auf dem Weg unseres Lebens Wanken wir von Augenblick zu Augenblick; der eine ist uns gleichgültig, wir lassen ihn vorüber, wie man einen grauen Fluß vorüberläßt. Der andere wiederum sendet Schmerzen, Dolchstöße in unser Herz. Was tun? Gewöhnlich seufzen wir „Ach ja!“ und weisen diesen Augenblick des Schmerzes weit von uns, treiben ihn weg, würden ihn am liebsten vernichten, damit er ja nicht wiederkommt. Aber es gibt auch erhabene Augenblicke, in denen wir uns eins fühlen mit dem gesamten Universum. Unser Geist weitet sich, umgreift kraftvoll den ganzen Horizont, und wir sind eins geworden mit allem uns Umgebenden und werden einer plötzlichen Harmonie inne, die über die Dinge herrscht. Das ist der Augenblick der Lust, gleichsam der Höhepunkt, der vollständige Ausdruck des Lebens. Und dann erhebt es sich in unserem Geist wie Hände, die den Augenblick umklammern und mit ihm ringen, daß er verweile. Ja, noch mehr: mit einem Sprung begeben wir uns in den Augenblick hinein, der so schnell vorübereilt, entschlossen, uns ihm zu überlassen, ohne Vorbehalt, ohne Argwohn, als wäre die Minute der Lust eines jener glückhaften Schiffe, wie sie bei Homer die Phäaken besitzen, Schiffe, die ohne Steuer und Pilot auf der See genau ihren Weg finden.
Einen solchen Moment hat Tizian gemalt. Diese Menschen leben in einer Stadt und erfahren dort die Plackereien des Alltags; sie haben unersättliche Ambitionen, leiden unter Entbehrungen, mißtrauen sich gegenseitig, das Gefühl ihrer eigenen Enge beklemmt sie, und einer sieht den andern mit trüben Augen an. Eines Tages aber wandern sie hinaus aufs Land: der Wind ist sanft, die Sonne durchgoldet die Stäubchen der Atmosphäre und setzt unter belaubte Zweige bläuliche Schatten. Da holt einer ein paar Amphoren, ein paar Becher, ein paar geschmackvoll gearbeitete goldene und silberne Krüge hervor. Darinnen funkelt der Wein. Sie trinken. Von den Seelen weicht die hysterische Spannung, Glut steigt in die Pupillen, Phantasien gestalten sich in den Gehirnzellen. Das Leben ist ja in Wahrheit gar nicht so schlimm; die menschlichen Leiber sind so schön vor dem blaugoldenen Hintergrund der Landschaft, die Seelen sind edel, sind dankbar und durchaus fähig, zu begreifen und Bescheid zu tun. Sie trinken. Es ist, als verwebten unsichtbare Finger unser Sein mit der Erde, dem Meer, der Luft, dem Himmel; als wäre die Welt ein Teppich und wir die Figuren darauf und als gingen die Fäden, aus denen unser Herz gewirkt ist, weit über den Teppich hinaus und wären vom selben Stoff wie droben die strahlende Wolke. Sie trinken. Wie lange sind sie schon hier? Ganz verschwommen erinnern sie sich daran, daß es eine Stadt gibt und daß es Schmerzen gibt und daß es Wechselfälle, Verlust und Tod gibt. Es ist ihnen, als seien sie schon seit Jahrhunderten hier und würden ewig hier bleiben und als sprühe der Sonnenstrahl in alle Ewigkeit sein Licht auf den silbernen Leib des Kruges. Wie etwas unendlich Dehnbares hat der Augenblick; sich erweitert und langt zu beiden Seiten an den vagen Grenzen alles Zeitlichen an. An diesem Wunsch nach ewiger Dauer, der einer jeden Stunde der Lust zutiefst innewohnt, erkennt Nietzsche die wirklichen Werte, die neuen Gesetzestafeln des Gut und Böse. So sagt er denn in seinen berühmten Versen:
Weh spricht: Vergeh!
Doch alle Lust will Ewigkeit —‚
— will tiefe, tiefe Ewigkeit!
Die Zechenden haben ihre Kleider abgetan, um auf warmer Haut die Liebkosung der Elemente zu verspüren, vielleicht auch aus dem heimlichen Trieb und Wunsch heraus, noch mehr mit der Natur eins zu werden. Und je mehr sie einschenken, mit umso klarerem Blick sehen sie die letzten Geheimnisse des Alls, die schöpferischen Formen aller Dinge sich ihnen offenbaren. Diese Geheimnisse sind die Rhythmen. Sie sehen, daß ringsum sich blaue Farbtöne häufen — Himmel, Meer, Gras, Bäume, Gewänder —, denen Rot- und Goldtöne entsprechen: die Leiber der Männer, die goldenen Strahlenbündel der Sonne, die Wölbungen der Gefäße, die gelblichen Körper der Frauen. Sie sehen im Himmel etwas wie eine heikle, ungeheure Frage; die Erde hingegen ist breit und kraftvoll wie eine befriedigende, wohlbegründete Antwort. Sie sehen‚ daß es auf der Welt eine rechte und eine linke Seite gibt, ein Oben und ein Unten; sie sehen, daß es Licht und Schatten gibt, Ruhe und Bewegung; sie sehen, daß das Hohle ein Schoß ist, der das Gewölbte in sich einläßt, daß das Trockene dem Feuchten entgegenstrebt, das Kalte dem Glühenden; daß die Stille ein Raum ist, worin vorüberziehendes Geräusch aufgenommen wird wie in einer Ruhestätte. Keine äußere Gelehrsamkeit hat diese Menschen in das rhythmische Geheimnis des Universums eingeweiht: der Wein, der ein weiser Gott war, hat sie in einem Augenblick; der Intuition das größte Geheimnis ergründen lassen. Nicht daß er ihnen irgendwelche Ideen eingegeben hätte. Nein, der Wein hat ihre Leiber in die fließende Vernunft eingetaucht, in der unsere Welt schwimmt. Und so kommt der Augenblick, in dem die Bewegungen ihrer Arme, ihres Rumpfes, ihrer Beine ebenfalls rhythmisch werden, in dem die Muskeln sich nicht nur bewegen, sondern bei ihrer Bewegung auch einem bestimmten Zeitmaß gehorchen. Der Rhythmus ist eine heimliche Logik, die im Muskel verborgen liegt: der Wein bringt sie zur Wirkung und macht aus Bewegung Tanz.
Bildquelle: Wikipedia
Textquelle: José Ortega y Gasset: Drei Bilder vom Wein. In: Gesammelte Werke in sechs Bänden, Bd. 1, Stuttgart 1978, S. 38-48.