Die Gesamtheit aller Zeichenbenutzer, Texte und Kodes einer Kultur kann als semiotischer Raum angesehen werden, als eine „Semiosphäre“, die Zeichenprozesse ermöglicht. (Vgl. Lotman, Über die Semiosphäre, Zeitschrift für Semiotik 12.4, 287)
„Die Semiosphäre ist gekennzeichnet durch ihre Individualität und Homogenität, den Gegensatz von Innen und Außen und die Ungleichmäßigkeit in der Struktur des Inneren. Die Grenze zwischen dem Inneren und dem Äußeren einer Semiosphäre wird durch die gegenseitige Fremdheit der Zeichenbenutzer, Texte und Kodes aufrechterhalten und ist durch Übersetzungsprozesse partiell überwindbar. Die Ungleichmäßigkeit des Inneren einer Semiosphäre, das sich in einen Kernbereich und zur Peripherie hin zunehmend amorpher werdende Bereiche gliedert, ist verantwortlich für die innere Dynamik der Semiosphäre.“ (Lotman, Über die Semiosphäre, Zeitschrift für Semiotik, 12.4, 287)
„Im Kernbereich befinden sich die dominierenden Zeichensysteme, in denen Zeichenbenutzer, Texte und Kodes in elaborierter Weise aufeinander abgestimmt sind. Zur Peripherie gehören Zeichenbenutzer, die kaum einen Kode gemeinsam haben, Texte, die unverständlich sind, weil ihre Kodes verloren gegangen sind, und Kodes, die heterogen und fragmentarisch sind.“ (Lotman, Über die Semiosphäre, Zeitschrift für Semiotik, 12.4, S. 287)
„Der Austausch zwischen Innerem und Äußeren sowie zwischen Kernbereich und Peripherie einer Semiosphäre führt zur Schaffung neuer Kodes, zur Produktion neuer Arten von Texten und zu Veränderungen bei den Zeichenbenutzern, die sie für neuen Sinn empfänglich machen.“ […] Die wesentliche Gemeinsamkeit der verschiedenen wissenschaftlichen Ansätze, die am Anfang der Semiotik standen, besteht darin: „Das einfachste atomare Element dient als Ausgangspunkt, und alles weitere wird unter dem Aspekt des Ähnlichkeit mit diesem betrachtet.“ (Vgl. Lotman, Über die Semiosphäre, Zeitschrift für Semiotik 12.4, S. 278f.)
„‚Der Mensch, wie man ihn in der Natur beobachten kann, ist wie alle lebendigen Organismen, wie jedes Lebewesen eine Funktion der Biosphäre in ihrem bestimmten Raum und ihrer Zeit‘. Ein analoges Vorgehen ist auch in den Fragen der Semiotik möglich. Man kann das semiotische Universum als Gesamtheit einzelner Texte und in Beziehung zueinander abgeschlossener Sprachen sehen. Dann wird das ganze Gebäude aussehen, als sei es aus einzelnen Ziegelsteinen zusammengesetzt. Fruchtbarer scheint jedoch das entgegengesetzte Vorgehen: Der gesamte semiotische Raum kann als ein einheitlicher Mechanismus (oder sogar Organismus) betrachtet werden. Dann bildet den Ausgangspunkt nicht der eine oder andere Ziegelstein, sondern das ‚Gesamtsystem‘, das Semiosphäre genannt wird. Die Semiosphäre ist jener semiotische Raum, außerhalb dessen die Existenz von Semiosen unmöglich ist.“ (Lotman, Über die Semiosphäre, Zeitschrift für Semiotik, 12.4, S. 289f.)
„Da sich ‚Kultur‘ […] mittels Zeichen vollzieht, kann sie als ein semiotisches System beziehungsweise nach Jurij M. Lotman auch als Semiosphäre aufgefasst werden. Im semiotischen Sinne ist also ‚Kultur‘:
die hierarchisch geordnete Gesamtheit aller Zeichensyteme, die in der Lebenspraxis einer Gemeinschaft verwendet werden. Von diesen sind manche dauerhaft (Bild, Statue, Gebäude, Gesetzestext), andere nur in ihrem Vollzug wahrnehmbar, der entweder einmal (Happening) oder häufiger stattfindet (Gottesdienst). Auch elementare Verhaltensweisen sind kulturell geformt, da jede Kultur etwa festlegt, wie eine bequeme Ruhehaltung aussieht und wieviel Schmerz man artikulieren darf (Posner, 3. Aufl. 2004, S. 364).
Zeichen lassen „sich in allen möglichen Informationskanälen finden, etwa dem akustischen, graphischen, ikonischen, gestisch-mimischen“ (Krah 2006, 50). Schrift, die spezifischen Symbolsysteme der Musik, Mathematik, Informatik, die natürliche gesprochene Sprache, Musik, Bilder, Symbole, potenziell auch Gestik, Mimik und Proxemik sind Zeichen, die in Zeichensystemen organisiert sind.“
(Nies, Martin: Kultursemiotik. In: Interkulturelle Kommunikation und Kulturwissenschaft: Grundbegriffe, Wissenschaftsdisziplinen, Kulturräume. Hrsg. v. Christoph Barmeyer, Petia Genkova und Jörg Scheffer. 2. Aufl. Passau 2011, S. 207.)
„Weil die Grenze einen notwendigen Teil der Semiosphäre bildet, braucht die Semiosphäre eine ’nichtorganisierte‘ äußere Umgebung und konstruiert sich diese, falls sie fehlt. Die Kultur schafft nicht nur ihre innere Organisation, sondern auch ihren eigenen Typ der äußeren Desorganisation. Die Antike konstruiert sich die ‚Barbaren‘, und das ‚Bewußtsein‘ konstruiert sich das ‚Unterbewußtsein‘. Dabei ist völlig unwichtig, daß diese ‚Barbaren‘ erstens über eine wesentlich ältere Kultur verfügen konnten und zweitens natürlich auch kein einheitliches Ganzes darstellten, sondern eine Vielfalt kultureller Entwicklungsstufen repräsentieren konnten, die von den höchsten Zivilisationen des Altertums bis zu Stämmen in einem sehr primitiven Entwicklungsstadium reichte. Nichtsdestoweniger konnte die antike Zivilisation sich als ein kulturelles Ganzes fühlen, indem sie einfach diese vermeintlich einheitliche ‚barbarische‘ Welt konstruierte, deren grundlegendes Merkmal das F e h l e n einer mit der antiken Kultur gemeinsamen Sprache war. Die äußeren Strukturen, die jenseits der semiotischen Grenze liegen, werden zu Nicht-Strukturen erklärt. Die besondere Bewertung des inneren und des äußeren Raumes ist ohne Belang. Wichtig ist nur das Faktum der E x i s t e n z d e r G r e n z e selbst.“ (Lotman, Über die Semiosphäre, Zeitschrift für Semiotik 12.4, S. 293f.)
„Die Einteilung in K e r n und P e r i p h e r i e ist ein Gesetz der inneren Organisation der Semiosphäre. Im Kern sind die dominierenden semiotischen Systeme angesiedelt. Während jedoch das Faktum einer derartigen Einteilung absolut ist, sind die Formen, in denen sie sich vollzieht, semiotisch relativ und hängen in beträchtlichem Maße von der gewählten Metasprache der Beschreibung ab […]. Die peripheren semiotischen Gebilde müssen nicht geschlossene Strukturen (Sprachen) sein, sondern können aus Sprachfragmenten oder auch nur aus einzelnen Texten bestehen. Indem sie für das gegebene System ‚fremde‘ Texte sind, erfüllen diese Texte im Gesamtmechanismus der Semiosphäre die Funktion von Katalysatoren. Einerseits entsteht an der Grenze mit einem fremden Text immer ein Bereich verstärkter Sinnbildung. Andererseits bewahrt jedes beliebige Bruchstück einer semiotischen Struktur die Mechanismen für die Rekonstruktion des ganzen Systems.“ (Lotman, Über die Semiosphäre, Zeitschrift für Semiotik, 12.4, S. 295)
„Bewußtsein ohne Kommunikation ist unmöglich. In diesem Sinne kann man sagen, daß der Dialog der Sprache vorausgeht und sie erzeugt. Gerade das liegt der Konzeption von der Semiosphäre zugrunde: Ein Ensemble semiotischer Gebilde geht der einzelnen isolierten Sprache voraus (nicht heuristisch, sondern funktional) und bildet die Bedingung für die Existenz der letzteren. Ohne Semiosphäre funktioniert die Sprache nicht nur nicht, sie existiert nicht einmal. Die verschiedenen Substrukturen der Semioshäre sind in ihrer Wechselwirkung miteinander verbunden und können ohne Unterstützung durcheinander gar nicht funktionieren. In diesem Sinne umfaßt die Semiosphäre der modernen Welt, die sich im Verlauf der Jahrhunderte unaufhaltsam im Raum ausgedehnt und heute einen globalen Charakter angenommen hat, die Signale der Sputniks ebenso wie die Verse der Dichter und die Schreie der Tiere. Die Wechselseitigkeit aller Elemente des semiotischen Raumes ist keine Metapher, sondern Realität.“ (Lotman, Über die Semiosphäre, Zeitschrift für Semiotik, 12.4, S. 298f.)