';
side-area-logo

In der Abwesenheit des Genies üben drei Amateure Beethovens Neunte

Für M.

„Der, der nicht weiß zu schreiben, glaubt nicht, dass dies eine Arbeit sei.
[…] Drei Finger schreiben, der ganze Körper leidet.“ – Schreiber, 8. Jhdt.

 

Sie sagte, Schreiben fiele ihr schwer. Das habe sie nicht erwartet. Was genau sie erwartet habe, wüsste sie allerdings nicht. Übrigens sehr zu meiner Freude: nichts schlimmer als das für sicher gehaltene Wissen um das eigene, sogenannte Wissen. Sie ‚wusste‘ vorher ohnehin zu viel. Das dritte Anhalten zum Schreiben, die dringliche, aber nicht bedrängende Wiederholung, hier vorzustellen als höflicher englischer Butler, der entschieden, aber gleichmütig eine Zeitung mit Nachrichten von erheblicher
Bedeutung zur Lektüre anempfielt und nicht als fingerschnippsende Sechstklässlerin, die in leicht gequetschtem Ton: „Hier, hier, hier“ quäkt, also dieses eher reservierte und zum dritten Mal ausgesprochene Angebot zum Schreiben hatte offenbar den gewünschten Effekt: der Impuls kletterte von der Ebene des bloß akustisch Verstandenen über den Pass des Gewohnten, vorbei an den Schranken des gar nicht mal so Schlechten bis in die Höhen des Begriffenen hinauf und zu den Schalthebeln des Warum-nicht: so wollte sie zur Tat schreiten, schritt jedoch nicht, sondern saß nur unbeweglich vor dem noch viel unbeweglicheren weißen Stück Papier. Und während das Papier in geradezu unverschämter Weise ruhig da lag, wüteten in ihr unzählige kleine Wortfeilen, dröhnten die Begriffsbohrer, flatterten die Satzfetzen, stürmisch, chaotisch, und – Metaphervariation -: wie tausend unterirdische Strömungen eines an sich jedoch nicht erfassbaren, geschweige denn lenkbaren Flusses, der gegen einen undurchdringlichen Damm andonnerte. Ob sie ein widerstandsloses Dahinfließen der Worte erwartet habe, das wie von selbst sich aus dem Dunkel des Unbewussten erhebe, aufsteige und sich aus dem schier endlosen Quell des Inneren auf das Papier ergieße; nein, das nicht, sondern nur ein Wort, das nicht Schlamm, nur einen Satz, der nicht Scheiße sei. Das, so sie, sei ja nicht zuviel erwartet, oder? Aber woher überhaupt diese Erwartung? Vielleicht weil der tägliche Vollzug des Fingerkuppentanzes auf Tastaturen darüber hinwegtäuscht, dass Schreiben und Schreiben zwei völlig verschiedene Dinge sind. Solange einen also nicht die Muse reitet, sitzt man. Man sitzt und sollte sich überzeugen, loszugehen, egal wohin, egal wielang, egal in welchen Schuhen, ganz egal, nur nicht sitzen, starren und dies Warten auf göttliche Musen. Die Vollkommenheit als Zeitlose darf uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass nichts Vollkommenes zeitlos ist, im Gegenteil: das Vollkommene ist die denkbar höchste Verdichtung von Zeit. Ein Moment-Diamant aus Kohle-Jahren, oder anders: Jedes Orchester ist ein Mann und eine Frau und eine Frau und ein Mann und ein Mann und eine Frau und so weiter und mindestens dies und das und jenes, idealerweise perfekt gestimmtes, perfekt beherrschtes Instrument. Und sofern wir morgen nicht als Beethoven oder Diamant aufstehen, erlauben wir uns das Scheitern, verdichten es und üben, bis wir ein Orchester sind.