Burggrabengier
Er sieht sich um, dann sagt er: Manchmal sitze ich in diesen bis zum Bersten und Quetschen und Zerquetschtwerden vollen Zügen, wo die Menschen haufenweise auf dem Boden und den Treppen vor einer ersten Klasse kauern, in der zwei Personen weit entfernt von einander sitzen und ich möchte dieser Etepetetefrauwichtig mit ihren hochhackigen roten Schuhen ein Auge ausstechen und den Etepeteteherrwichtig mit seiner Krawatte erdrosseln, nicht weil sie erster Klasse reisen und mir billiger Sozialneid immer recht ist, sondern weil sie an die Notwendigkeit und Berechtigung einer ersten Klasse glauben, weil sie diese Trennung wünschen und leben und ihre Burggrabengier alle Brücken bräche, wenn sie weiter grassierte.
Schuldig nippt er seinen Kaffee. Ich weiß, Wut, Ohnmacht, Gewalt, führt zu nichts. Würde mich aber beruhigen. Beruhigt aber auch nicht lang. Wer weiß, wie die in der ersten Klasse denken. Und wer weiß, wer das nächste Opfer des entfesselten Pöbels wäre. Er sieht sich abermals nach Mistgabeln um, dann führt er den Gedanken weiter: Manchmal sitze ich ja in diesen bis zum Bersten und Quetschen und Zerquetschtwerden vollen Zügen, wo die Menschen haufenweise auf dem Boden und den Treppen vor einer ersten Klasse kauern und lauthals husten und noch lauter den Nasenschnodder hochziehen und noch lauter telefonieren und von Hämorrhoiden und Genitalpilzen erzählen und noch viel lauter grölen und saufen und schwitzen und stinken und grenzdebil glotzen und dann blinzle ich sehnsüchtig zur ersten Klasse und wünsche mir gierig meinen eigenen Burggraben, damit der Pöbel draußen bleibt in seiner ganzen viehischperversen Verhaltensweise.
Ich bin ja genauso ein Monster, sagt er, und leert den Kaffee. Dabei will ich nur in Ruhe lesen. Ich versuche es ja. Eigentlich bin ich friedlich. Notgedrungen duldsam. Aber gib mir Macht, dann wende ich sie an: Wenn wieder so ein Primatenfürst im Zug gegen Flüchtlinge hetzt während sein „Bro“ irgendeine Frau angeht, die natürlich nicht in Ruhe lesen oder in Ruhe sein kann, zück ich einfach den Taser und schmeiß das paralysierte Pack raus, keine Diskussion im Sinne einer humanistisch-liberalen Leitkultur, keine Hoffnung auf Besserung und keine Toleranz, einfach Taser und fertig. Als ob einer, der Andere gegen ihren Willen nötigt, angrabscht oder Witze über „Flüchtlingsgrillen“ macht, belehrt werden könnte, als müsste er nur kurz mal beiseite genommen werden, hey Marcel, das war aber grad ganz unfein, das hast du selbst gemerkt, dass das nicht ok war, oder, Marcel, das kannst du doch besser, oder, also Marcel, was sagt man? Das Pack disqualifiziert sich durch sein völlig empathiebefreites, barbarisches und alles in allem menschenverachtendes Verhalten und so sollte es auch behandelt werden, als Erdenpilz, wirklich, es ist viel zu eng unter Menschen, im Ernst, gib mir eine Burg und ich bewohn‘ die, sagt er und greift instinktiv zur Tasse und will einen Schluck nehmen und stutzt und stellt die leere Tasse wieder zurück auf den Tisch. Alles Monster, sagt er. Und du?
Ich geh meistens zu Fuß, sag ich.