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was lange gärt3

Wir hatten über den Zusammenhang von Gewalt und Macht gesprochen, nachdem sie ihren Nachbarn gewissenhaft mit einem Fischmesser ausgeweidet hatte. Während der nahezu blutleere Körper und der ohnehin hohle Kopf des Nachbarn, von dessen fehlendem Inhalt sie sich ja unbedingt hatte überzeugen müssen, wegen des Gestanks auf dem Balkon deponiert waren, saßen wir in der Küche, tranken Tee und frönten friedlichberuhigter Konversation, jetzt, da sie möglich war, jetzt, da die Lärmquelle endlich, nach Monaten unaufhörlicher Belästigungen, ausgeschaltet war. Die Polizei hatte, wie immer, nichts getan, außer in schulmeisterlichlächerlicherweise den Zeigefinger zu heben und „du du du“ in das Gesicht des seit Monaten alle anderen Nachbarn nervenden Nachbarn gestreichelt und so war es kein Wunder, dass der alle Nachbarn nervende Nachbar fröhlich und lautstark weiter terrorisierte: Und da die sogenannte Staatsgewalt ihre Macht nicht ausübte, übte eben der Nachbar die Gewalt aus: Denn irgendwer hat immer die Macht und irgendwer übt immer Gewalt aus. Die einzige Frage dabei ist: Wer und wie.

Byung-Chul Han hat geschrieben, sage ich, „die Macht als Zwang besteht darin, eigene Entscheidungen gegen den Willen des Anderen durchzusetzen. So weist sie einen sehr geringen Vermittlungsgrad auf. Ego und Alter verhalten sich zueinander antagonistisch.“ – So wie der Nachbar und ich, sagt sie, und nippt am Tee. Ich hab es ja versucht, beginnt sie wieder und tippt mit zwei Fingern nervös gegen die Teetasse. Ich hab es versucht, ich habe mit ihm geredet, nicht nur einmal, ich habe mit ihm seit Monaten immer wieder geredet, ihn darauf hingewiesen, dass wir in der WG nicht schlafen können bei diesem Lärm, und dass wir nicht arbeiten können, wenn wir nicht schlafen. Und wer kann leben, wenn er nicht schlafen kann? Wenn jede zweite Nacht bis 5 Uhr in der Früh die Wände vibrieren? Wenn das seit Monaten so geht, wenn man vor Stress nur noch heult und zitternd vor Wut im Bett liegt. Ich hab ihn gebeten, ermahnt, bedroht, habe sogar gebettelt, ich!, aber nichts. Es war ihm einfach scheißegal. Und im Treppenhaus dann auf freundlich machen! Was macht man mit so einem Menschen, dem andere völlig egal sind? – Man benutzt ihn als Dünger fürs Blumenbeet? frage ich, und sehe leicht amüsiert zum Balkon hinaus. In den hohlen Schädel muss nur etwas Blumenerde und dann vielleicht etwas Schönes, etwas Blühendes, eine Tulpe? – Tulpen sind giftig, entgegnet sie. Wie der Nachbar. Besser Petersilie, die kann ich immerhin für all die Rühreier nehmen, die ich nun endlich in Ruhe essen kann. Sie nippt erneut an ihrem Tee. Dann beginnt sie wieder: Ich kam mir ja vor, als wär ich gar kein Mensch mehr, nur noch diese Wut, der Schaum vor dem Mund. Dazu hat er mich gemacht, zu diesem Häufchen Elend. Ich zieh doch nicht weg, nur weil so eine blöde Sau nicht empathisch und rücksichsvoll sein kann. Es kann ja der friedlichste Mensch nicht in Ruhe leben, wenn es seinem asozialen Nachbarn nicht gefällt. Die blöde Sau!, ruft sie, und schmeißt dabei fast die Tasse um. Ich hab es ja versucht, seufzt sie wieder. Aber selbst der friedlichste Mensch hat irgendwann genug von der Ohnmacht, zu den ihn andere zwingen, irgendwann kann man einfach nicht mehr weitermachen mit dem Nichtstun. Man schluckt und schluckt und schluckt. Man wartet auf Einsicht, hofft auf Besserung, wünscht sich Frieden, aber das ist naiv. Gute Beispiele wirken bei gut erzogenen Menschen; sie wirken ja nicht mal bei Haustieren! Und dann willst du Wölfen wie diesem Nachbarn auf deiner Kinderflöte von Frieden und Freiheit vortirilieren? Dass ich nicht lache. Und sie lacht plötzlich sehr laut und künstlich, springt auf, rennt zum Balkon und tritt den zukünftigen Blumendünger unter allen möglichen und unmöglichen Beschimpfungen, bis sie schließlich erschöpft zu Boden sinkt und fragt: Haben wir noch Tee?

Als nach drei Tagen die Polizei an die Tür klopfte, öffnete sie ganz ruhig und fragte, was denn los sei. Es gehe um einen Vermisstenfall, so die Beamten; sie müssten ihr einige Routinefragen stellen, nichts Besonderes. Und so bat sie die Polizisten kurzerhand herein und in die Küche, bot ihnen Tee an und erkundigte sich nach dem Nachbarn, der, wie wir von den Polizisten erfuhren, wohl von allen Anwohnern eher gemieden wurde; dementsprechend hätte auch niemand Auskunft geben können, ja, niemand hätte irgendetwas Sachdienliches aussagen können. Und während sie sich dem anschloss und bedauerte, den Polizisten nicht helfen zu können, und die Beamten seufzten, dass man in solchen Fällen dann eben machtlos sei, sah ich friedlichbeglückt zu der grünenden Petersilie auf dem Balkon hinaus. Es war ein sonniger und ruhiger Tag.