Der wehmütige Blick auf einen norwegischen Fjord beim Scheißen
Ich saß auf einer himmelnahen Anhöhe mit Blick auf einen breiten Fjord, der sich stumm seinen Weg durch uralte Gebirge bahnte, langsam und unaufhaltsam, tiefblau unter Nebel wie gleißender Sonne, ein Kräftespiel ewiger Giganten unter jungen Augen, und erhabene Berge rahmten mich ein. Rauschende Wasserfälle aderten über die bewaldeten Hänge, die hoch aufschießenden Baumgipfel, das grüne Kleid der Welt. Darüber die zerstiebenden Wolken, die über meinen steinigen Thron flohen, zeitlupengleich, ein Reich aus Geist, entblößt, verflüchtigt, vergessen. Kleine Inseln aus Moos wuchsen aus den Rissen des Gesteins, und alles würde bleiben und so werden wie bisher, wenn meine Finger von den rauen Felsen lassen, alle kleinen Kiesel Meter weit geflogen, alle Lebewesen längst verschwunden sind. So unendlich dieser Raum, so kurz der Augenblick, so klein der Mensch, hineinverwirrt in einen Kosmos, in dem die Zeit sich selbst erzählt und alles Mögliche durchspielt, die Geschichte allen Seins und ihre stummen, dauernden Zeugen.
Ich saß wie einer, der nicht wartet, und mein Blick schlenderte durch Schluchten, über Wipfel, in die Weite. Hier war kein Denken nötig, kein Vergleich bereichernd, jede Meinung überflüssig. Hier konnte alles gelten, wie es ist. Unbeeindruckt, uneinnehmbar, unbeirrbar. Kein Zweifel sprengte diese Szenerie entzwei, nichts in diesem Tal aus Wasser, kalter Luft und festem Stein ließ sich verderben. Als gäb es keinen Weltenkrach. Hier hätt ich stehen können, wenn ich nicht gesessen hätte, hier hätt ich schlafen können, hätt ich meine Augen schließen wollen vor all dem, was in sie leuchtete. Wer kennt ihn nicht, den Bann der Schönheit, der nur flüstern muss: sieh mich an, und man sieht und sieht und sieht, und kann sich nicht entziehen.
Kurz bevor ich ging, erschien ein Pärchen: die typisch lauten Leute, die sich in die Leere stellen und Fotos davon machen. Und sich diese Fotos zeigen. Guckmal hier, guckmal dort, nun guckdochmal. Und dann den Winkel und den Ausschnitt ändern. Und Klamotten. Und sich lauthals fragen, sieht das gut aus, hast du Netz, hast du Akku, hast du jetzt, jetzt, hast du Netz, und dann sagen, nein, ich hab kein Netz. Ja, wenn Bäume kotzen könnten, wenn die Berge seufzten und die Bäche würgten. Wär dann jemals wieder Ruhe? Wenn die Gipfel sagten: Mensch, hau ab. Wenn die Natur wie die Mimose wäre und sich schlicht verschlösse, wenn der Mensch mal wieder angeschissen kommt. Vielleicht wäre dann die Würdigung der Akt der Nähe, der sie öffnete. Vielleicht wär Dauern wieder möglich, wenn nicht jeder Baum an Axt und Beil des Menschen denken ließe, sondern vielmehr an die Krone und den Wind, der durch sie klingt.
Doch alles wird banal und eng und Inszenierung, wird zum Bild und darauf klein. Die Berge schrumpfen und die Fjorde bleiben blaue Fläche. Selbst die Gipfel stehn in diesen Szenen ganz im Schatten dieser Egos, die das alles überschauen und sich zur Staffage machen. So als wär das Foto vom Gebirge ein Gebirge. So als wär der Fjord das Zeichen eigner Ausdauer, die Gipfel ihre achsoschmerzlichschneidenden Momente schneebedeckter Einsamkeit. Als wär dies Norwegen noch irgendwas; als wär es noch besonders, wenn Leute auf den Dächern irgendeiner überschätzten Großstadt Rotwein schlürfen und rein zufällig die Sonne scheint und die Szene retromäßig überstrahlt. Als wär es heute neu, wenn einer nah am Zelt mit Bergsee nebenan drei Eier brät oder auf irgendeiner Südseeinsel kristallines Wasser auf den Luxuskörper tröpfeln lässt. Als wär das echt: das Bild. Immerhin, so mag man meinen, denkt die halbe Welt die andre mit, wenn sie an einem Plätzchen weilt, wo sich das Leben inszenieren lässt. Das ist doch irgendwie auch Nächstenliebe und sehr tröstlich: da ist der Fremde, Andere und Nächste stets dabei, und sei er noch so fern. Und kann in Ruhe von dem Sessel aus in andere Leben schauen. Und sich grämen, dass er grade nicht in diesem weiten, alten Norwegen weilt. So wie ein Freund, der mir damals aus dem nachgelebten Urlaub schrieb.
Hey, beste Grüße! Ich war an diesem Ort, den du erwähntest. Du weißt schon, das Sprungbrett aus Stein. Stimmt schon: Diese Weite! Norwegen at it's best! Was für eine Atmosphäre. Geht definitiv klar. Oben wie unten, man kann sich kaum satt sehen. Man guckt links, man guckt rechts, man wird direkt wehmütig. Dieser Blick auf Fjorde erinnert mich immer an die Wikinger. Du weißt schon, wie in Vikings: Schiffe, Bärte, Schwerter. Das war so richtig natürlich. Kein Plastik, nur Ziegenmilch und Holz und Feuer. Zur Not wurde auf den Steinen geschlafen: ich hab vorhin nah dem Sprungbrett ein Nickerchen gemacht und mir vorgestellt, ich hätte ne Axt und ne Mission. Dann fiel mir meine warme Butze ein und dass die Evolution Gemütlichkeit aus nem guten Grund entwickelt hat. Wobei Wikinger ja eher ungemütlich waren. Und offenbar blind: was willst du denn in England, wenn du Norwegen hast? Aber die waren auch weniger touristisch unterwegs. Na-ja. Ist ne gute Entwicklung, denke ich: Früher lag hier n Wikinger mit ner Axt und betete zu Odin, heute steh ich hier mitm Wanderstock und seh mir Wolken an. Ich weiß überhaupt nicht, wie ich das finde. Aber ich hab geile Fotos! Und ja, doch, ich denk mir: All diese Kreisläufe, die Bergbäche, das Hinabrinnen, Niederregnen, Gletscherschmelzen. Irgendwas passiert eben. Mit den Menschen ist es ja genauso. Erst bist du Wikinger, dann bist du müde, dann bist du tot. Nur die Welt bleibt die immeralte: Aufgetürmte Materie, die man betritt und besitzt und von ihr nach unten blickt... Aber unter uns, mehr als Sehen ist ja eigentlich nicht drin: Ich saß so da und nichts war los. Alles ganz friedlich. Der Fjord lag auch so da. Und die Berge natürlich. Schöne grüne Bäume, sehr malerisch, stimmt schon. Naja, ich saß eben so da, nicht ungemütlich. Aber da passiert wirklich gar nichts. Gut, n paar Pärchen mit so Rucksäcken mit Füchsen, Typen mit Bart, Frauen mit Typen mit Bart. Nichts besonderes eben. Dann aber doch frostiger scharfer Wind, ein schneidendes Pfeifen und Wehen: Klang fast wie Stimmen von weit her, ich hab mir direkt die Mütze aufgesetzt. Und dann plötzlich ist überall diese Leere und ich starre in diese gähnenden Täler. Nichts! Mir wurd irgendwie ganz eklig eng und kalt. Dann plötzlich die Krämpfe, der Schweiß, der Schwindel. Ich habs erst gar nicht begriffen, in dem Moment nur blankes Entsetzen und keine Ahnung. Irgendein Anfall in Norwegen, was für ein Albtraum. Weit und breit ja kein Arzt, nur die Berge. Denk mal an die Wikinger: Abkratzen mit 15, weil der nächste Halsnasenohrenarzt im Sonstwo wohnt, drei Fjord weiter, wenn überhaupt. Das Ende in Norwegen! Ich sah mich schon wie in Vikings auf nem Haufen von Baumstämmen liegen, leichenblass, gestorben an Verstopfung, zack, setzt der erste mit der Fackel an und ich fange Feuer und brenne und wandere als Ascheflocke in den leeren Himmel. Ich sah es vor mir! Das Atmen fiel schwer und schwerer. So gings einige viel zu lange Sekunden. Aber dann, dann endlich seilte ich einen Haufen Scheiße von der Größe einer Kleinstadt ab - und so beachtlich dieser Haufen war und so besonders der Moment war: nichts daran war besonders. Von wegen Norwegen: Der Fjord lag da, ich ging, und der Haufen dampfte.